CAROLINE IM REGEN KINDERLITERATUR-PROJEKT 2004
Die Mai-Geschichte

Tumbling

Die Unsichtbaren

Und weg ist sie., sagt der Streuner und seufzt.

Ja, weg ist sie., sagt Caroline und seufzt auch.

Aber sie seufzt nur ein bisschen.

Denn die tiefen Seufzer hebt Caroline sich immer für die Momente auf, in denen sie traurig ist oder vielleicht sogar wütend.

Für die schönen Momente aber hebt sie sich die kleinen Seufzer auf, und wenn man sieht, wie die Sonne zwischen den Dächern der Häuser gleich gegenüber von Carolines Fenster untergeht dann ist das ein schöner Moment. Ein sehr schöner sogar. Ein schöner, orangeroter Moment. So orangerot wie der Streuner.

Und der mag die Sonne, wenn sie untergeht, deshalb besonders gern.

Nun ist es aber nicht so, dass dem Streuner die Sonne nur gefällt, wenn sie untergeht.

Die Sonne, wenn sie aufgeht, ist mindestens genauso hübsch, aber die sieht der Streuner nur sehr selten.

Er schläft nämlich gerne lang.

Manchmal schläft er sogar, bis die Caroline von der Schule heimkommt.

Aber das macht nichts.

Langsam verschwindet nun auch das letzte Orange, das die Sonne dem Himmel überlassen hat, damit sich die Menschen noch etwas daran erfreuen können, bevor es dunkel wird.

Caroline und der Streuner sehen zu, wie der Himmel erst in ein helles und dann in ein dunkles Blau überwechselt.

Bald wird er schwarz sein., erklärt Caroline. Und dann ist es Nacht.

Ich mag die Nacht., sagt der  Streuner und tänzelt auf dem Fensterbrett auf und ab. Nein, sagt er jetzt. Ich liebe die Nacht!

 

Ich auch., sagt Caroline. Manchmal habe ich in der Nacht die tollsten Träume. Du kommst auch darin vor. Und der Wind und der Regen - und stell dir vor: der blaue Wanderschirm auch!

Das ist schön., sagt der Streuner, aber mehr sagt er nicht.

Und was machst du in der Nacht?, will Caroline wissen. Träumst du auch?

Ich besuch dich doch in deinen Träumen., sagt der Streuner. Damit hab ich schon genug zu tun.

Und wenn du nicht gerade in meinem Träumen bist was machst du dann?, fragt Caroline weiter.

Naja dann... mache ich andere Besuche., sagt der Streuner. Ich besuche Mia. Zum Beispiel.

Mia? Wer ist Mia?, will Caroline sofort wissen. Ist es ein Mädchen so wie ich?

Naja., sagt der Streuner. Ein bisschen ist sie so wie du.

Wie kann denn jemand nur ein bisschen von irgendwas sein?, wundert sich Caroline. Und dann will sie wissen, ob die Mia auch einen Flitzer hat, so wie sie.

Natürlich nicht., meldet sich der Flitzer jetzt. Es gibt nur einen von meiner Sorte. Ich bin etwas Besonderes. Das sieht man doch.

Natürlich bist du das., sagt Caroline. Du mit deinem schönen blauen Stern auf der einen und dem schönen silbernen Stern auf der anderen Seite. Trotzdem gibt es noch viele andere Rollstühle das musst du zugeben.

Aber es gibt nur einen Flitzer., sagt der Flitzer.

Und da hat er recht.

Mia hat auch einen Rollstuhl., meldet sich jetzt der Streuner wieder. Naja ein bisschen zumindest.

Da ist aber nicht viel dran an dieser Mia, mischt sich der Flitzer schon wieder ein. Immer nur ein bisschen von allem. Sie ist nur ein bisschen wie Caroline, sie hat nur ein bisschen von einem  Rollstuhl...

 

Ja, das musst du uns erklären., stimmt Caroline dem Flitzer zu denn wenn jemand nur ein bisschen von etwas ist und ein bisschen von etwas hat und trotzdem etwas so Besonderes ist, dass er Besuche vom Streuner bekommt dann will man das schon genauer wissen.

Also., erklärt der Streuner: Mia ist ein Mädchen. Ein Katzenmädchen. Und der Rollstuhl, der gehört der alten Dame, auf deren Knien sie sitzt. Also ist sie ein bisschen wie Caroline und ihr gehört ein bisschen von einem Rollstuhl so ist das.

Ist sie deine Freundin?, fragt Caroline.

Ja. Das ist sie. Genauso wie du., sagt der Streuner. Naja, fast genau so wie du.

Das ist schon wieder nur ein bisschen., surrt der Flitzer etwas ungeduldig. Warum nur ein bisschen? Warum nicht ganz?

Ja, warum nicht ganz?, will auch Caroline wissen.

Es wäre doch schön, wenn der Streuner ein Katzenmädchen zur Freundin hätte.

Denn Katzen und Kater laufen doch gerade Nachts sehr gerne herum, und da wäre es doch schön für den Streuner, wenn er das mit einem Katzenmädchen namens Mia machen könnte das heisst natürlich, wenn er nicht gerade in Carolines Träumen unterwegs ist.

Mia kann nicht laufen., sagt der Streuner.

Warum nicht?, fragt Caroline. Ist sie vielleicht doch so wie ich?

Nein., erklärt der Streuner. Sie will gar nicht laufen.

Das glaub ich nicht., schüttelt Caroline den Kopf. Jeder will laufen können.

Nicht wenn die alte Dame nicht laufen kann, bei der du auf den Knien sitzt., erklärt der Streuner. Denn die wäre ja traurig, wenn sie nicht mitlaufen kann.

Alte Damen laufen nicht einfach so herum., weiss der Flitzer. Die Papa-Oma ist froh, wenn sie sitzen kann.

Das stimmt., pflichtet Caroline ihm bei.

Aber die Papa-Oma ist halt nicht die alte Dame., meint der Streuner. Und die wäre sehr traurig, wenn Mia einfach so herumlaufen würde.

Nein, das glaub ich nicht., ist Caroline ganz sicher: Ich bin ja auch nicht traurig, wenn du mit dem Wind um die Wette rennst.

Geh zur alten Dame und frag sie einfach., schlägt der Flitzer vor.

Das geht nicht., sagt der Streuner.

Wenn die alte Dame nur halb so nett ist wie unsere Caroline, dann geht das sehr wohl., sagt der Flitzer. Also geh und frag sie.

Ich kann sie aber nicht fragen., sagt der Streuner. Sie kann mich nämlich nicht sehen.

Aha. Caroline erkennt das Problem sofort. Der Papa und die Mama, die können den Streuner ja auch nicht sehen.

Aber Mia kann die alte Dame doch sehen!, ruft Caroline. Dann soll eben Mia fragen, ob sie mit dir spazieren gehen darf.

Super Idee., sagt der Flitzer und surrt ein bisschen, was soviel heisst wie Super Idee eben.

Keine super Idee., sagt der Streuner und geht auf dem Fensterbrett auf und ab. Denn die Mia kann mich auch nicht sehen.

Hoppla das ist allerdings ein Problem., sagt Caroline und der Flitzer surrt dazu, ziemlich laut sogar, was soviel heisst wie: Das ist allerdings wirklich ein Problem.

Dabei ist sie so ein schönes Katzenmädchen., meint der Streuner. Und sie ist so lieb zu der alten Dame...hält ihr immer die Hände warm, wenn ihr kalt ist... schnurrt sie in den Schlaf, wenn sie müde ist... und lauter solche Sachen.

Schade, dass sie dich nicht sehen kann..., sagt Caroline.

Vielleicht sollte sich Mia einen kleinen Hund wünschen., fällt es da dem Flitzer ein.

Und das ist vielleicht gar keine schlechte Idee.

Damals, als Caroline sich einen kleinen Hund gewünscht hat und die Mama gesagt hat, dass das nicht geht da hat ihr der Regen den Streuner auf das Fensterbrett geklatscht - einen Kater zwar, und keinen kleinen Hund aber der Streuner ist schon eine gute Sache.

Einen kleinen Hund., sagt Caroline nachdenklich und schüttelt dann den Kopf: Ich glaub nicht, dass sich Katzenmädchen kleine Hunde wünschen würden.

Das bezweifelt der Streuner auch und der Flitzer gibt zu, dass die Idee vielleicht doch nicht so gut war, und die Caroline versteht, dass der Streuner ein bisschen traurig ist, weil man ihm so gar nicht helfen kann.

Es ist nicht lustig, wenn man unsichtbar ist., sagt Caroline zum Streuner. Ich finde es auch nicht lustig, wenn ich den anderen Kindern im Park beim Spielen zuschaue und die mich gar nicht sehen.

Wie sollen dich die Kinder sehen, wenn du dich hinter einem Baum versteckst?, fragt der Flitzer.

Ich mag den Baum eben., sagt Caroline.

Und Toby magst du auch., sagt der Flitzer.

So ein Blödsinn., schnaubt Caroline, und wenn sie könnte, dann würde sie jetzt sogar ein bisschen surren, aber das kann sie eben nicht und so schnaubt sie nur ein bisschen, das tuts auch.

Doch, du magst ihn. Toby ist der schnellste Läufer in deiner Klasse., sagt der Flitzer. Und er sieht sehr gut aus.

So ein Blödsinn., schnaubt Caroline wieder aber der Streuner findet das durchaus interessant.

Du solltest Toby sagen, dass du ihn magst., meint der Streuner. Er kann dich immerhin sehen und das ist schon was.

Er sieht nur die Tina., erklärt Caroline. Die kann mindestens genauso schnell rennen wie Toby...

Kann sie auch durch Dreckpfützen rasen, dass die Räder quietschen?, fragt der Flitzer. Oder zwischen den Regentropfen durchzischen ohne nass zu werden?

Nein., sagt Caroline. Und das muss sie auch nicht denn der Toby kann das auch nicht.

Dann ist es kein Wunder, dass er dich nicht sehen kann., meint der Streuner. Der würde sich ja grün und blau ärgern über alles, was du kannst und er nicht!

Na, ich weiss nicht..., sagt Caroline. Er kann zum Beispiel Bockspringen oder über die Wiese kugeln.... und auf Bäume klettern...und er rennt wie ein Wilder beim Fangenspielen...

Wer will das schon können?, fragt der Streuner und ist nach wie vor so gar nicht beeindruckt von diesem Toby. Wer will schon Bocksprünge machen wenn er Katzensprünge machen kann, und wer will schon jemanden einfangen, der nicht freiwillig bei ihm bleibt?

Das frage ich mich auch., sagt der Flitzer. Und wer will schon über eine Wiese kugeln, wenn er darüber rasen kann und wer will schon auf einen Baum klettern, wenn er ihn umkreisen kann ganz egal, wie hoch er ist.

Caroline muss lachen, denn so hat sie die Sache noch nicht betrachtet, und sie fühlt sich schon ein bisschen besser.

Trotzdem ist es eine traurige Sache, dass das dem Streuner eben so gar nicht hilft: Die Mia kann ihn trotzdem nicht sehen.

Aber riechen kann sie ihn., meldet sich plötzlich der Wind und Caroline beeilt sich, das Fenster aufzumachen, damit der Wind sich auf das Fensterbrett setzen kann. Er hat nämlich eine Antwort auf so vieles, weil er eben viel herumkommt und es sieht nun ganz so aus, als könnte er dem Streuner einen Rat geben.

Riechen kann dich die Mia, sagt er nochmals und setzt sich neben dem Streuner aufs Fensterbrett, und der Streuner spitzt die Ohren:

Wie gibts denn das?, fragt er. Wie kann sie mich denn riechen, wenn ich vor der Fensterscheibe sitze und die Mia dahinter?

Na du kannst doch auch den Himmel riechen, wenn die Sonne untergeht und der ist ziemlich weit von dir entfernt., erklärt der Wind und zwinkert Caroline zu. Caroline riecht den Himmel nämlich auch.

Tut sie das?, fragt der Flitzer. Das kann er sich nämlich nicht ganz vorstellen. Aber der Flitzer hat ja auch nicht gesehen, wie der Wind der Caroline zugezwinkert hat. Die Caroline hat es aber gesehen und so nickt sie:

Doch., sagt Caroline. Der Himmel der riecht nach... Orangen, wenn die Sonne untergeht.

Nach Orangen?, fragt der Streuner und das interessiert ihn sehr.

Na sicher. Die Sonne färbt den Himmel orangerot ein, wenn sie untergeht und dann riecht er nach Orangen genauso wie die Sonne nach Zitronen riecht., erklärt der Wind und dann fügt er hinzu: Und jetzt rate mal, wonach du riechst?

Ich?, fragt der Streuner und sieht sich seine orangeroten Pfoten genau an. Und er überlegt... und überlegt...und plötzlich geht ein Strahlen über sein Katergesicht und er stellt ganz entzückt fest:

Ich glaube, ich rieche auch nach Orangen!

Ja, das tust du., sagt der Wind. Und zufällig weiss ich, dass deine kleine Mia Orangen sehr gerne mag.

Da weisst du aber mehr als ich., sagt der Streuner.

Das kommt davon, weil du nur Augen für Mia hast., meint der Wind. Würdest du darauf achten, was es ausser Mia sonst noch gibt, dann würdest du wissen, dass die alte Dame eine ganze Schüssel voll Orangen auf ihrem Küchentisch stehen hat. Und dann würdest du auch wissen, dass die sehr gut riechen und dass die Mia längst davongelaufen wäre, wenn sie die Orangen nicht mögen würde.

Das leuchtet dem Streuner irgendwie ein.

Na Gott sei Dank., seufzt der Wind. Dann wirst du auch verstehen, dass dich die Mia wo du doch so gut nach Orangen duftest sicher ebenso gut riechen kann.

Ja., überlegt der Streuner. Das ist möglich.

Das ist ganz sicher so., sagt Caroline:

Sie kann dich mindestens genauso gut riechen wie ... eine ganze Schüssel Orangen und das ist doch schon was.

Ja. Das ist wirklich schon was, denkt sich der Streuner.

In dieser Nacht, als die Caroline munter wird und aus dem Fenster guckt um zu sehen ob der Himmel vielleicht bald nach Orangen riecht weil die Sonne aufgeht, da sitzt der Streuner vor Mias Fenster und duftet vor sich hin.

Aber der Wind, der sitzt auf Carolines Fensterbrett und weil niemand da ist der sie hören könnte, fragt Caroline ihn:

Sag mal, Wind rieche ich eigentlich auch nach etwas?

Ja., sagt der Wind. das tust du.

Und wonach rieche ich?, fragt Caroline.

Das frag die Mama., sagt der Wind.

Und das macht Caroline auch.

Gleich am Morgen, nach dem Frühstück, fragt sie die Mama:

Sag mal, Mama wonach rieche ich eigentlich?

Und die Mama gibt der Caroline die Semmel mit der Orangenmarmelade für die Schule und überlegt:

Das kommt darauf an..., sagt sie und lächelt. Heute morgen riechst du auf jeden Fall nach frischen Orangen.

Später in der Schule, als der Toby keine Jause hat, weil er seine Semmel daheim vergessen hat, da gibt die Caroline ihm ein Stück von ihrer Marmeladensemmel ab.

Der Toby sagt, dass nichts so gut riecht wie die Semmel von der Caroline. Und da hat er fast recht.

Aber eben nur fast.

Denn der Streuner, der riecht mindestens genauso gut.

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