CAROLINE IM REGEN KINDERLITERATUR-PROJEKT 2004
Die Februargeschichte

Der Wanderschirm

'Wieviel ist vierzehn minus sechs?', fragt Caroline den Streuner und greift nach ihrem Taschentuch - dem weissen mit den rosa Häkelspitzen von der Papa-Oma - und schneuzt sich.

Aber der Streuner rührt sich nicht.

Der liegt einfach auf dem Fensterbrett und döst vor sich hin und sieht nicht so aus als hätte er vor, sich demnächst mit irgendwas anderem zu beschäftigen.

Also sagt Caroline 'Kehrt um, Flitzer', und das macht der Flitzer auch gleich und weiss genau wo er Caroline hinkutschieren soll.

Der Flitzer ist ja ein wirklich cleverer Rollstuhl.

Er hat ein echtes Elektrogehirn, das ihm irgendein anderer cleverer Kopf eingebaut hat, und er ist nicht nur sehr schlau, er ist auch wunderbar blau mit einem silbernen Stern auf der einen und einem blauen Stern auf der anderen Seite.

Kurzum: der Flitzer ist ein Prachtstück, und er weiss das auch - aber er spricht kaum darüber.

Er ist meist so stumm wie der Streuner das jetzt ist - nur ist das beim Flitzer  normal, und beim Streuner ist es ein Wunder.

Also rollt der Flitzer die Caroline möglichst dicht an das Fenster ran, damit sie sehen kann, warum der Streuner so still ist.

Aha - jetzt tut sich was: der Streuner hebt den Kopf und sieht Caroline an.

'Acht.', sagt der Streuner. 'Vierzehn minus sechs, das ist acht.'

'Danke.', sagt Caroline. 'Du bist auch sehr clever.'

Das soll dem Streuner, der heute ein bisschen zu still ist, etwas schmeicheln - aber nichts passiert.

Ganz im Gegenteil:

'Vierzehn minus sechs, das ist acht.' - und das ist alles, was der Streuner zu sagen hat.

'Gibts sonst noch was Neues?', fragt Caroline und berührt mit ihrem Zeigefinger ganz leicht die Spitze vom linken Ohr vom Streuner, denn wenn man das bei Katzen macht, dann zuckt das so lustig, und es wäre eine Möglichkeit, etwas Leben in den Kater zu bringen.

Müde!!!

Na, klar! Das ist die Antwort!

Caroline nickt und sagt:

'Gell, Streuner - das Wetter macht einen ganz marod.'

Aha - jetzt hat sie seine Aufmerksamkeit erregt, denn er wendet den Kopf:

'Marod? Was für ein Wort ist das denn?'

'Ein neues.', erklärt Caroline. 'Ich hab's von der Papa-Oma.'

'Dann ist es nicht neu - dann ist es alt.', erklärt der Streuner, und das ist ein gutes Zeichen, denn zumindest redet er jetzt.

'Für die Papa-Oma ist es vielleicht nicht neu - für mich aber schon. Und für dich auch.', sagt Caroline. 'Es bedeutet sowas wie müde, glaub ich...und kaputt....glaub ich... und trotzdem noch okay...'

'Glaubst du.',  sagt der Streuner und schüttelt den Kopf, stellt sich auf seine vier Pfoten und streckt sich kräftig durch: 'Dabei gibts das gar nicht.'

'Was?', fragt Caroline, und der Flitzer schiebt sich noch ein Stück an das Fenster heran, denn jetzt ist er auch neugierig geworden.

Clever ist er ja - aber das Wort marod...

'Das kenn ich nicht, das Wort.', gibt der Flitzer zu.

'Ist auch kein Wunder: Es ergibt keinen Sinn - und in deinem Dieselhirn muss doch alles einen Sinn ergeben, damit die Drähte nicht durchbrennen.', murmelt der Streuner.

Er stellt sich auf die Hinterbeine und stützt sich mit den Vorderpfoten gegen die regentropfnasse Fensterscheibe:

'Nichts kann müde und kaputt und trotzdem noch okay sein.'

'So ein Blödsinn!', ruft da jemand - und gleich darauf fliegt irgendwas Blaues gegen die Fensterscheibe, und der Streuner erschrickt und fällt Caroline direkt rückwärts in den Schoss.

'Nur gut, dass mein Dieselhirn gut genug funktioniert um zu wissen wo ich mich hinstellen soll, um gewisse nervöse Katzen aufzufangen, bevor sie sich was brechen.', sagt der Flitzer und brummt ein bisschen, nur damit der Streuner weiss, dass er gemeint ist aber den Streuner interessiert das gar nicht!

Schliesslich flog da gerade was Blaues, Grosses gegen das Fenster - und - Hoppla! - da kommt das Ding schon wieder angeflogen und setzt sich mich einem Rrrrumms direkt auf das Fensterbrett, hält sich dort im Regen fest und kratzt am Fensterglas:

'So ein Blödsinn!', sagt das blaue Ding. 'So ein Blödsinn aber auch!'

'Was ist ein Blödsinn?', fragt der Wind und setzt sich neben dem blauen Ding ebenfalls auf die Fensterbank. Er nickt Caroline und dem Streuner und dem Flitzer freundlich zu.

Caroline macht sofort das Fenster auf - denn durch offene Fenster tratscht es sich doch um einiges besser als durch geschlossene und man sieht auch mehr als durch katzenpfotenuebersaehte Fensterschreiben.

'Die Katze sagt, etwas kann nicht gleichzeitig müde und kaputt und trotzdem noch okay sein.', erklärt das Ding.

Aber da hat es die Rechnung ohne den Streuner gemacht:

'Erstens bin ich ein Kater!', regt er sich auf und macht einen enormen Buckel, damit man sieht, dass er nicht nur ein Kater, sondern sogar ein riesengrosser Kater ist. 'Und zweitens: Wer sind Sie denn überhaupt, dass Sie sich hier einfach auf unsere Fensterbank setzen und sich in Dinge einmischen...'

'Ein Schirm.', unterbricht ihn das blaue Ding - und das stimmt:

Hier sitzt ein blauer Schirm auf dem Fensterbrett, gleich neben dem Wind, der dem Schirm immer ein bisschen Luft von unten gibt, damit er sich leichter festhalten kann - aber trotzdem muss man genau hinsehen, um zu erkennen, dass das Ding wirklich ein Schirm ist.

'Ich bin natürlich ein Wanderschirm.', erklärt der Schirm, als ob er Carolines Gedanken erraten hätte, und auch die Gedanken vom Streuner und die Gedanken vom Flitzer denn die wissen ja auch nicht, was ein Wanderschirm ist.

Ist das ein Schirm mit einigen geknickten und einigen fehlenden Speichen... mit einem Loch hier und einem Loch dort und einem Haufen Fäden, die davonhängen? Das ist nämlich alles, was sie sehen kann.

'Richtig.', sagt der Wanderschirm: 'Man muss es einem Wanderschirm schon ansehen, wenn einer  tagaus und tagein bei Wind und Regen und überhaupt bei jedem Wetter von hier nach da zieht..

'Oder sich ziehen lässt.', sagt jetzt der Wind und blickt Caroline freundlich an: 'Er ist nämlich schon ein bisserl marod vom Wandern... aber sonst noch ganz okay.'

'Das Wort!', sagt der Streuner zu Caroline.  'Der kennt es auch.'

'Na klar kenne ich es.', sagt der Wind. 'Früher haben das die Leute oft verwendet - heute hör ich es nur mehr selten.  Aber es macht mir Spaß, es ab und zu selbst zu benutzen... Es erinnert mich an die gute, alte Zeit.'

'Gut und alt.', sagt der Streuner zu Caroline, und jetzt stützt er sich mit den Vorderpfoten am Fensterbrett ab und streckt sich ein wenig, um den Wanderschirm besser betrachten zu können. Kann denn etwas alt und gleichzeitig noch gut sein?

'Aber sicher.' , sagt der Wind: 'Schau nur mich an! Mich gibt es schon immer - aber sieht man mir das an? Macht mich das weniger schön und weniger stark und weniger schnell? Nein! Ich bin so stark wie ich sein will und so schnell wie ich sein will - und schön bin sowieso.'

'Naja.', meint der Streuner  und hüpft nun von Carolines Knien zurück aufs Fensterbrett. 'Ich will dir ja nicht zu nahe treten, weil du mich doch damals der Caroline vorgestellt hast, aber.... woher weisst du denn, dass du schön bist? Hast du dich schon mal in einem Spiegel gesehen?'

Funkstille. Kein Laut ist zu hören. Kein Lüftchen weht, und die plötzliche Ruhe ist beinahe unheimlich.

Da ist nichts weiter zu hören als das leise Tröpfeln des Regens, der anscheinend etwas zu beschäftigt ist, um sich an diesem Gespräch zu beteiligen - und da ist das leise Scharren des Wanderschirms auf dem Fensterbrett, der etwas Mühe hat, sich ganz ohne Hilfe von unten festzuhalten - und da ist eine weiss und grau gesprenkelte Feder, die durch die Luft schwebt und genau auf der neugierigen Nase des Streuners landet!

'Oh - die ist aber schön.', sagt Caroline und nimmt die Feder an sich.

'Ja.', sagt der Streuner. 'Das ist sie.' Aber eigentlich denkt er an die Taube, die dazugehört, denn die ist sicher noch um einiges schöner... fragt sich nur, wo sie ist!

Der Streuner spürt ein leises Jucken in den Pfoten und denkt an etwas, an das er nicht denken sollte, weil er weiss, dass Caroline ihm die Vogeljagd verboten hat... Und so versucht er, an den Wind zu denken.

'Na - wie sehe ich aus!', meldet sich da plötzlich der Wind - und der Streuner sieht sich um - aber den Wind kann er nicht sehen.

'Wo bist du?', fragt der Streuner und reckt seinen Kopf etwas weiter aus dem Fenster, denn wer weiss - vielleicht sieht er ja nicht nur den Wind... vielleicht kommt das laue Lüftchen in Wirklichkeit von einem hübschen weissen Täubchen, das zufällig auf der Suche nach seiner Feder ist...

'Aber Streuner!', lacht der Wind. Grad sass ich noch auf deiner Nase und trotzdem siehst du mich nicht.'

Da hält Caroline die Hand hoch und kitzelt den Streuner mit der Feder und lacht:

'Hier - da war er drin, der Wind.', sagt sie. 'Denn ohne den Wind wäre die Feder nie hier gelandet.'

'Ja - und wo ist er jetzt?', fragt der Streuner.

Da meldet sich ein leises Rauschen - und das Rauschen wird lauter und lauter, und plötzlich bewegt sich der Wanderschirm und steigt in all seiner blauen Pracht in die Höhe, schaukelt einen Moment in der Luft hin und her und setzt sich dann wieder auf das Fensterbrett.

'Siehst du.', sagt der Wind. 'So schnell bin ich! Einmal reise ich auf einer Feder durch die Luft, ein andermal helfe ich dem Wanderschirm beim Fliegen, und weisst du noch, als ich dich damals auf diesem Fensterbrett abgesetzt habe?'

'Aber ja!', ist der Streuner ganz entzückt. 'Das heisst, du bist wirklich nicht nur schnell, sondern auch schön.'

'Na, dann ist das ja klar.', sagt der Wind. 'Ich bin alt, aber gut.'

Trotzdem ist es etwas kühl geworden im Zimmer und Caroline muss wieder einmal zum Taschentuch von der Papa-Oma greifen, um sich die Nase zu putzen - und dem Streuner auch. Nur hat der Streuner das nicht so gern und er zieht schnell durch die Nase auf, damit Caroline sieht, dass er gar nicht geschneuzt werden muss.

'Ich auch.', sagt da plötzlich der Wanderschirm und schüttelt seine blauen Schwingen, dass die Tropfen nur so fliegen.

Und so streckt Caroline die Hand nach vor und tupft den armen, nassen Wanderschirm etwas trocken.

'Ah, das tut gut. Vielen Dank.', sagt der Wanderschirm. 'In meinem Beruf gibt es nicht viele Menschen, die mir helfen. Die wollen alle nur, dass ich sie trocken halte - aber dass sie das auch für mich tun könnten, das fällt keinem ein.'

'Aber hallo!, sagt der Wind. Wer föhnt dich denn trocken, wenn du deine nasse Arbeit gemacht hast?'

'Ja...', sagt der Wanderschirm. 'Entschuldige bitte! Es ist nicht so, dass ich auf dich vergessen hätte.'

'Das kannst du auch nicht.', sagt der Wind und lacht. 'Ohne mich gäbe es ja auch keine Arbeit für dich.'

'Wohl eher ohne mich!', meldet sich nun endlich der Regen und lässt ein klein wenig nach, um sich zu seinen Freunden zu gesellen: 'Ich bin es doch, der hier herumspritzt, was das Zeug hält, damit du die Leute trocken halten kannst.'

'Aber ich bin es, der ihn den Leuten dann wieder entführt und ihn zu jemandem bringt, der ihn auch nötig hat.', fügt der Wind hinzu.

Ja - und das sieht man dem Wanderschirm wirklich an: Wenn man für so viele Menschen gearbeitet hat wie er und so oft vom Wind herumgetragen worden ist wie er und so viel Regenwasser abbekommen hat wie er - na, dann hat er wohl ein Recht darauf, etwas marod auszusehen:

Müde, etwas kaputt - aber doch okay genug, um mit Freuden das zu sein, was er ist: ein etwas maroder, aber sehr fleissiger Wanderschirm.

Damit verabschiedet er sich, denn er hat noch viel zu tun.

Da kommt auch schon die Mama ins Zimmer und wundert sich, dass das Fenster schon wieder offen steht.

'Es regnet doch.', sagt sie zu Caroline. 'Da kann man doch nicht das Fenster offen lassen.'

'Wo regnet es?', fragt Caroline - denn, siehe da, der Regen ist plötzlich auch weg.

Und da wundert sich die Mama noch ein bisschen mehr.

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